Wie ihr diesem Buch anseht, ist es bereits durch einige Hände gegangen. Nicht nur ich selbst, auch drei Freundinnen mit gefühlsstarken Kinder haben es verschlungen. Das Buch hält, was der Untertitel verspricht: Nora Imlau hilft uns, unsere gefühlsstarken Kinder besser zu verstehen und entspannter zu begleiten - damit sich ihr unglaubliches Potenzial entfalten kann.

Gefühsstark - was ist das eigentlich?

Dein Kind war schon als Baby sehr fordernd und seine Laune wechselt so schnell wie das Wetter im April? Zwischen Himmelhochjauchsend und Zutodebetrübt, zwischen Engel und Teufel, zwischen übersprudelnder Liebe und rasender Wut vergehen oft nur Minuten? Es ist oft grüblerisch, hartnäckig, sensibel, kommt schlecht mit Veränderungen klar und immer auf sofortige Bedürfnisbefriedigung aus? Es ist voller Mitgefühl und Ungerechtigkeiten aller Art bringen es in Rage? Dann hast du mit hoher Wahrscheinlichkeit ein gefühlsstarkes Kind - so wie wir. 

Und das ist vielleicht die wichtigste Botschaft von Nora Imlau: Du bist nicht allein - und auch nicht schuld daran, dass dein Kind anders ist. Wahrscheinlich hat dir schon der Buchtitel die Tränen in die Augen getrieben und du hast dein Kind sofort wiedererkannt, oder? Der Leidensdruck betroffener Eltern ist nämlich enorm. Doch Hilfe naht!

Meine Freundin S. formuliert es so: "Nora Imlau gibt Antworten und hat im es im Verlauf des Buches geschafft, dass ich mehr und mehr Verständnis für meine Tochter entwickelt habe und differenzieren kann zwischen gefühlsstark, hochsensibel, High-Need, Spitited Children und Schreibabys. Die Autorin belegt, das dies keine Modediagnosen für Eltern sind, die ihre Kinder nicht im Griff haben. Viel Unterstützung, übermäßigen Trost und Begleitung lasse ich meinem jetzt 8-jährigen gefühlsstarken Kind zukommen, was eine tägliche Gratwanderung ist, vor allem, um ein ausgewogenes Verhältnis zum älteren Geschwisterkind zu schaffen, was bei der geringen Selbstregulation der Jüngeren illusorisch ist. Doch in diesem Buch fand ich die Bestätigung für mein jahrelanges Trösten – obwohl die Wutanfälle dadurch weder weniger noch kürzer wurden."

Auch wenn es uns Eltern von gefühlsstarken Kindern oft so vorkommt, als würden wir ihnen in ihrem Gefühlschaos kaum helfen können, zeigt uns Nora Imlau, dass es einen Riesenunterschied im Körper und Gehirn des Kindes macht, ob man es mit seinen überwältigenden Gefühlen alleine lässt. Zitiert wird „die Wissenschaft des Tröstens“ von der Hirnforscherin Sunderland. Auch Nora Imlau empfiehlt „Begleitung statt Vorwürfe“.

Emotionaler Rückfall auf einen früheren Entwicklungstand

Dank des Buches fällt es uns betroffenen Müttern nun leichter, zu berücksichtigen, dass gefühlsstarke Kinder vor allem intellektuell oft weit für ihr Alter entwickelt sind, in emotionalen Stresssituationen jedoch auf einen früheren Entwicklungsstand zurückgeworfen werden. Wir erwarten als Eltern verständlicherweise, dass unser Kind im entsprechenden Alter bestimmte Dinge kann und wenn es diese in gewissen Situationen nicht tut, sind wir genervt und unterstellen Absicht. Doch dabei überschätzen wir die sozialen und emotionalen Fähigkeiten von hochsensiblen, gefühlsstarken Kindern. 

Nach dem Lesen des Buches können wir in solchen Situationen tief durchatmen und uns bewusst machen, dass es unserem Kind gerade nicht anders möglich ist, die überbordenden Gefühle zu kanalisieren, und wir gut daran tun, uns davon zu lösen, was zum Beispiel ein Schulkind auf emotionaler und kognitiver Ebene können müsste. Das freiere Begegnen auf der Entwicklungsstufe, auf die es sich gerade begeben hat, wirkt. Nora Imlau zeigt uns, dass es nicht zielführend ist, dem Kind zu signalisieren, dass es sich nicht altersgerecht verhält! Jedem Persönlichkeitsanteil sollte seine eigenes Entwicklungstempo gegeben werden.

 

Vom Leben mit einem "Emotionsseismographen" - und Potenzialen

Das Buch hilft, die Handlungsmotive genauer zu hinterfragen, sich nicht mehr schuldig zu fühlen und Zweifeln nicht mehr so großen Raum zu geben. Denn unsere Kinder sind „Emotionsseismographen“, die jede Unsicherheit und jeden Zweifel in unseren Stimmen herausfiltern. Gemeinsam gilt es, die unterschiedlichsten Emotionen herauszufiltern. Was gibt es überhaupt für viele verschiedene Gefühle? Wie heißen diese? Darum geht es im Abschnitt „Die Sache mit dem Spiegeln“. Die Palette menschlicher Emotionen ist groß, aber Nora Imlau umschreibt, dass wir den Kindern generell nicht genug Worte an die Hand geben, die sie vielleicht bräuchten, um uns einen Einblick in ihre komplizierte und vielschichtige Gefühlswelt zu geben. Ein spannender Ansatz.

Man merkt ganz deutlich, dass Nora Imlau nicht nur eine erfahrene Fachautorin für Familienfragen ist, sondern auch selbst betroffen. Eines ihrer drei Kinder ist gefühlsstark und sie hat alle Höhen und Tiefen selbst erlebt. 

Sehr hilfreich sind daher auch ihre Tipps, wie man das Thema im Umfeld, vor allem in der erweiterten Familie sowie in Kita und Schule kommuniziert. Denn auch hier sollten Bezugspersonen wissen, dass sie es mit einem besonderen Kind zu tun haben, dem man seine Gefühlsausbrüche nicht zum Vorwurf machen, sondern ihm helfen sollte. Nicht jeder hat leider eine so tolle Lehrerin wie mein Sohn, die ihn unterstützt, wenn er zum Beispiel mitten im Unterricht aufsteht und die Klasse anschnauzt, sie sollen doch gefälligst leise sein, bei dem Lärm könne niemand konzentriert arbeiten. Für viele ist ein gefühlsstarkes Kind einfach ein Störfaktor, um nicht zu sagen ein "A...lochkind". Doch mit der entsprechenden Kommunikation kann sich das - zumindest im direkten Umfeld - ändern. Manchmal ist aber auch ein Kita- oder Schulwechsel und eine sehr klare Ansage an die Großeltern nötig. 

Neben vielen fachkundigen Hilfestellungen bei typischen Stresssituationen werden auch Potenziale gefühlsstarker Kinder beschrieben - und davon haben unsere Kinder unglaublich viele. Wenn es uns gelingt, sie trotz ihrer Besonderheiten gut beim Großwerden zu begleiten, haben unsere Kinder die Chance, alles zu erreichen und die Welt zum Guten zu verändern!

Denn ein gefühlsstarkes Kind ist zwar eine tägliche Herausforderung, aber auch ein großes Geschenk. 

Erschienen ist das Buch bei Kösel, die 20 Euro sind hervorragend angelegt. Inzwischen gibt es mit "Du bist anders, du bist gut" noch ein weiteres Buch von Nora Imlau zum Thema, das sich speziell an Eltern von Schulkindern richtet.